Lektionen am Morgen nach der Europawahl: Mehr Scheitern wagen
Rückblick auf den Wahlabend: Ein kraftloser Friedrich Merz, gute Nachrichten für Eltern kleiner Kinder und das Ende der Linken.
Die Europawahl 2024 stellt für Deutschland in vielerlei Hinsicht eine Zäsur dar. Sie gibt zugleich einen Ausblick auf den weiteren Umbruch der Parteienlandschaft. Dieser Umbruch ist seit Jahren im Gange und beschleunigt sich.
Von den etablierten politischen Kräften wird er als Ausdruck einer grundlegenden Entfremdung von den Wählern weitgehend negiert. Nicht zuletzt deshalb war am Wahlabend gelegentlich von einem "überraschenden" Ergebnis und "überraschenden" Teilergebnissen die Rede.
Hier eine erste, kursorische und womöglich etwas launenhafte Einordnung der Ergebnisse und der wichtigsten Akteure.
Die Ampelparteien
Eine absolute Bruchlandung für die Dreierkoalition, die im Herbst 2021 angetreten war, um Deutschland nach den letzten bleiernen Merkel-Jahren "mehr Fortschritt" zu versprechen, wie es damals zumindest in der Überschrift des Koalitionsvertrages hieß. Gut zweieinhalb Jahre später kommen SPD, Grüne und FDP bei der Bundestagswahl gerade noch auf 31 Prozent.
Das sind in Summe gut zehn Prozentpunkte weniger als bei der vergangenen Europawahl 2019 und sage und schreibe 20 Prozentpunkte weniger als bei der Bundestagswahl im Herbst 2021.
Offenbar fühlen sich die Deutschen weniger frei und empfinden das Land sowie die EU als weniger gerecht. Und was "Nachhaltigkeit" – mutmaßlich der Beitrag der Grünen zum Titel – außerhalb eines Biomarktes bedeuten soll, vermag damals wie heute wohl keiner der Autoren erklären.
Fakt ist: Die anfangs von vielen mit einem Sympathievorschuss begrüßte, ideologisch uneinheitliche Truppe entpuppt sich als zerstrittene und führungslose Chaotentruppe.
Kaum jemand hätte sich vorstellen können, dass der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) es schaffen würde, die Aussitzkanzler Helmut Kohl und Angela Merkel an Passivität noch zu übertreffen.
Zuletzt kam mit seiner Ukraine-Politik noch der Geruch der Prinzipienlosigkeit hinzu. Die Wähler haben es nicht goutiert.
Diese Abstimmung – und das ist bemerkenswert für eine sonst kaum bedeutsame Europawahl – wird wohl der erste Sargnagel für die Ampel-Koalition sein. Sie siecht noch bis Herbst 2025 dahin.
Die Außenseiter
Wie ernst die Krise der etablierten Parteienpolitik in Deutschland nach Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und angesichts der allgemeinen Krisenstimmung ist, zeigt auch ein Blick auf die anderen, sonst kaum beachteten, kaum freiwillig in Talkshows eingeladenen und kaum diskutierten Parteien. 14,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten für kleine Parteien wie ÖDP und Freie Wähler.
Trotz der fehlenden Fünfprozenthürde bei der Europawahl weiß jeder, der eine dieser Parteien wählt, dass seine Stimme kein großes Gewicht haben wird. Eine Stimme für die kleinen Parteien bringt allenfalls Einzelkämpfer ins Parlament, die – mit Ausnahme der Satirepartei "Die Partei" – wenig damit anzufangen wissen.
Eine eigene Feststellung dazu findet sich weiter unten im Abschnitt über die "Linke".
Die Christdemokraten
Der große Sieger sei die Union unter Friedrich Merz, hieß es am Sonntagabend über die bestplatzierte Partei in der Krisenphalanx der Etablierten. Und natürlich holte Friedrich Merz gleich zum großen Schlag gegen den Kanzler aus.
Wenn Merz‘ Worte Scholz ins Wanken bringen, dann nur, weil der Angegriffene selbst auf wackligen Beinen steht. Kraft hat den Angriff des Oppositionsführers aus dem Wahlergebnis heraus kaum.
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Gerade einmal 1,1 Prozentpunkte haben die Christdemokraten als führende Oppositionskraft aus der fast historischen Krise eines Regierungsbündnisses herausgeholt. Das ist für sie enttäuschend.
Die Bilder von der Wahlparty nach Bekanntgabe des Ergebnisses zeigen es. Durchwachsen, könnte man sagen, die Stimmung, viele lange Gesichter, nur wenige pflichtgemäß Jubelnde.
Im Gesamtbild spricht daraus die Haltung: Wir hätten viel mehr daraus machen müssen. So setzt sich die Merz-Misere der Christdemokraten fort. Die 1,1 Prozentpunkte Zugewinn sind zu viel, um sie loszuwerden, und zu wenig, um auch hier den notwendigen Neuanfang zu schaffen.
Die Sozialdemokraten
Die Sozialdemokraten sind, wie so oft in ihrer Geschichte, an sich selbst gescheitert. Spätestens seit den Schröder-Jahren auf der Suche nach der eigenen Identität, die irgendwo und irgendwann zwischen 1918 und 2024 verloren gegangen ist, sind sie mit Olaf Scholz endgültig zur Partei des kleineren Übels geworden.
Wer wählt noch aus Überzeugung SPD? Wer noch aus traditionellem Pflichtgefühl und der fahlen Erkenntnis, dass eine andere Konstellation ohne sie noch mehr Sozialabbau und Krieg bedeuten würde?
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Der schleichende Weg in die Bedeutungslosigkeit wird auch deutlich, wenn man die Akteure der deutschen Sozialdemokratie von den Sechzigern bis in die späten 1980er-Jahre betrachtet oder die Debatten eines Herbert Wehner verfolgt.
Der Niedergang der SPD ist jedoch kein nationales Phänomen. Ein Blick in andere europäische Staaten, zum Beispiel nach Griechenland, zeigt, dass die unentschlossenen Roten auf dem Rückzug sind. Von der dort mächtigen Pasok spricht heute niemand mehr.
Vielleicht ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, die Londoner Zentrale der Sozialistischen Internationale in ein Museum zu verwandeln.
Die Grünen
Es ist schwer, zu Ihrem Ergebnis Stellung zu nehmen, denn wenn jemand am Boden liegt, sollte man mit ihm nachsichtig sein. Der unglaubliche Absturz der Grünen ist das Ergebnis des missionarischen Eifers, das Land nach der eigenen Ideologie, die man mit universellen Werten verwechselt, umzukrempeln, während man den Widerstand dagegen durch die Brille der eigenen Arroganz nicht wahrzunehmen fähig und bereit ist.
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Die Fehler der Grünen waren so vielfältig, dass es schwierig ist, sie in einem kurzen Abschnitt zusammenzufassen. Kopf- und planlos gebaute LNG-Terminals an der Küste, die dann brachliegen, weil die transatlantischen Freunde in Washington sie nicht beliefern wollen. Erstmals wirklich bedingungslose Solidarität, inzwischen mit Kiew, flankiert von den Worten, man schere sich nicht um die Meinung der eigenen Wähler und sei im Übrigen bereit, für die Folgen dieser Politik zu zahlen.
Aber das war "man" nicht. Der Absturz der Grünen wird mit dem derzeitigen sogenannten Spitzenpersonal kein singuläres Ereignis bleiben. Zumal man davon ausgehen muss, dass eine Annalena Baerbock keine Lehren daraus ziehen wird. Denn für sie gibt es keine Partei und keine Wahlen, sondern nur sich selbst, mitsamt Kleidern und Visagistin.
Die AfD
Es gab eine Zeit, da wäre es möglich gewesen, aus der AfD mit all ihren Brüchen seit ihrer Gründung eine konservative, notfalls auch rechtskonservative Partei zu machen. Dazu hätte es eines intelligenten Umgangs mit ihr bedurft. Stattdessen aber agierten die etablierten Parteien und vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien so, wie wir es in den vergangenen Jahren beobachten konnten: Angriffe, verdeckte Kampagnen, mediale Attacken.
Die AfD hat es geschafft, ähnlich wie ein ihr ideologisch nahestehender Präsidentschaftskandidat in den USA, aus fast allen diesen Angriffen Kapital zu schlagen.
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Niemand konnte ernsthaft davon ausgehen, dass das ominöse und vielfach überbewertete Potsdamer Treffen eine Trendwende einleiten könnte. Fakt ist: Der Aufstieg der AfD vorwiegend im Osten ist das Ergebnis eines historischen Politikversagens.
Während die etablierten Parteien seit 1990 schlechtes und abgehalftertes Personal aus dem Westen in den Osten schickten, baute die AfD eigene Strukturen mit Menschen vor Ort auf, die tief in der dörflichen Stadtgemeinschaft verankert sind.
Der Wahlsieg bei den deutschen Europawahlen 2024 wird die Radikalisierung weiter vorantreiben. Die Rechten können nun in der Überzeugung agieren, dass sie nichts und niemand aufhalten kann. Schon gar nicht eine Regenbogenfahnen-Demonstration in Berlin. Oder Medien, die sich zum Programm gemacht haben, als Korrektiv in die Politik einzugreifen.
Die FDP
Bleibt bei fünf Prozent und behält Christian Lindner.
Die manchmal etwas gruselig wirkenden Wahlplakate mit Nahaufnahmen der Augen von Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann verschwinden aus dem Straßenbild – zur Freude vieler Eltern kleiner Kinder.
Das BSW
Vorbilder, die aus dem Stand die Fünfprozenthürde übersprungen haben, gibt es kaum. Das nach Sahra Wagenknecht benannte Bündnis, das noch kaum Strukturen hat, das etwa in Brandenburg so schnell angetreten ist, dass es sich noch unter anderem Namen registrieren lassen musste, das noch in der Positionsfindung und im Aufbau von Landesverbänden steckt, hat mit sechs Prozent die FDP überholt.
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Natürlich muss jetzt beobachtet werden, was die "Wagenknechtianer" aus diesem Ergebnis machen. Es ist ein Vertrauensvorschuss, den sie erhalten haben und den sie bis zur nächsten Bundestagswahl im Herbst 2025 ausbauen könnten.
Inhaltlich lässt sich dazu bisher nicht viel sagen, das Ergebnis lässt eher Rückschlüsse auf die anderen zu. Vor allem die "Linke".
Die "Linke"
Die Neosozialisten haben das Ergebnis eingefahren, das für alle vorhersehbar war, nur nicht für sie selbst. Wie lange und wie oft wurde behauptet, die seit Jahren anschwellende Krise von Partei und Fraktion sei auf Wagenknecht zurückzuführen. Wenn sie weg sei, könne es erst richtig losgehen.
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Es muss Wagenknecht viel Überwindung gekostet haben, nach all den Angriffen und persönlichen Attacken nicht mit Häme auf ihre ehemaligen Weggefährten zu reagieren. Fakt ist: Die Aussteiger haben mehr als doppelt so viele Stimmen erhalten wie die Linke, die über eine bundesweite Struktur, eine Bundesgeschäftsstelle und langjähriges Personal verfügt. Das Ergebnis wird also zu einer weiteren Abwanderung zum BSW führen.
Dass eine bundesweit vertretene Partei, die aus der deutsch-deutschen Geschichte entstanden ist, bei dieser Wahl das gleiche Ergebnis erzielt wie eine Pro-EU-Kleinpartei wie VOLT, sagt alles.
Die Medien
Auf allen Ebenen sollte es eine Debatte über diese Wahl, ihre Vorgeschichte und den Umgang mit den Akteuren geben. Monatelange Berichterstattung gegen die AfD, fehlende Kritik an den etablierten Parteien und Akteuren, gezielt platzierte Artikel der öffentlich-rechtlichen Medien gegen das BSW als neue Kraft und die AfD als rechte Opposition – all das wirft die Frage auf, inwieweit sich vor allem die gebührenfinanzierten Medien noch als unabhängige Beobachter mit journalistischem Auftrag verstehen.
Wenn am Freitag vor der Wahl in der Tagesschau ellenlang darüber berichtet wird, wie eng die Positionen zwischen BSW und AfD sind, wenn am Wahlabend eine ARD-Moderatorin Wagenknecht unterstellt, ihre migrationspolitischen Positionen, die von großen Teilen der Bevölkerung geteilt werden, seien rechts, dann muss dieser Wahl auch eine medienkritische Aufarbeitung folgen. Wie und wo, das wird sich zeigen.
Da die öffentlich-rechtlichen Medien mit ihrem gefühlt gemeinsamen Personalpool mit den Regierungsstellen ebenso selbstkritisch sind, wie Annalena Baerbock bei den Grünen persönlich die Verantwortung für die Niederlage vom Sonntag übernehmen wird, ist wenig zu erwarten.
Vor allem die umstrittene Berichterstattung über das Potsdamer Treffen hat eine klare politische Positionierung auch der öffentlich-rechtlichen Medien gegenüber den Rechten offenbart. Die Medien wurden in diesem Fall zu Mobilisierungs- und Demonstrationsorganen der Linken, der Grünen und der Regierung. Auch das ist ein Zeichen des Niedergangs.